Man wähnt sich ins Mittelalter oder in ein Sektenmilieu versetzt, wo am Heiligsten gekratzt wird. «Wandbilder unter Rassismusverdacht» schreibt dazu die «Neue Zürcher Zeitung» in einem ganzseitigen
Artikel unter Verweis auf zwei grossflächige Bilder in der Eingangshalle des Bahnhofs Wiedikon. Gezeichnet hat sie 1926 der Zürcher Plakatkünstler Otto Baumberger (1889-1961), als die Bahngleise zwischen Hauptbahnhof und Bahnhof Enge tiefer gelegt wurden, um die Sihl zu unterqueren. Darüber
entstand der neue Reiterbahnhof Wiedikon, geschmückt mit modernistischer Werbung für das Warenhaus Jelmoli. Der in Altstetten geborene Grafiker und Zeichner Otto Baumberger
erhielt den Auftrag direkt vom damaligen Stadtbaumeister Hermann Herter. Später wurde Baumberger Dozent und ausserordentlicher Professor an
der ETH; 1939 malte er ein Wandbild mit Szenen aus der Schweizer Geschichte für die Landesausstellung in Zürich.
Und jetzt das: «Rassistisch», «diskriminierend», «verletzend» sollen die bald hundertjährigen Wandbilder sein, unter denen «Tausende von Pendlern täglich hindurch eilen, um
ihren Zug zu erwischen», wie die Zeitung von der Falkenstrasse schreibt. «Jahrzehntelang nahm kaum jemand Notiz von den Werbegrafiken für Jelmoli. Bis zu diesem Frühling.»
Ausgelöst hat die Debatte im März 2021 ein Bericht der städtischen Projektgruppe «Rassismus im öffentlichen Raum» (RiöR), die schon den Anstoss gab, den Begriff
«Mohr» auf öffentlichen Fassaden zu tilgen, da er problematisch sei. Der gleiche Bericht hält auch fest, dass die zwei Wandbilder im Bahnhof Wiedikon «Ausbeutungsverhältnisse in
der Baumwollproduktion repräsentieren, koloniale Verstrickungen des Warenhandels und Fragen hinsichtlich der Darstellung der sogenannten Anderen aufwerfen.»
Zeit für einen Augenschein vor Ort, den der Präsident des Quartiervereins Urs Rauber zusammen mit dem Wiediker Künstler Jan Leiser vornimmt. Was sehen sie da? Auf dem Bild über dem Kiosk (nordöstliche Seite) prüfen elegant gekleidete Kundinnen den von einem Verkäufer angebotenen feinen Stoff. Weiter zeigt das Bild ein voll bepacktes Ehepaar nach dem Einkauf sowie zwei mit einem Ballon und einer Eisenbahn spielende Kinder. Die Botschaft: Das Warenhaus Jelmoli verkauft edle Stoffe, Kleider, Hüte und Spielwaren. Auf der gegenüberliegenden (südwestlichen) Wand über dem Café Spettacolo werden die Hersteller dieser «Kolonialwaren» gezeigt: ein Schwarzafrikaner mit einem Teller voll exotischer Früchte, ein Araber mit einem kunstvollen Teppich und eine chinesische Person mit einem Teetablett. Davon etwas abgesetzt sind eine weissgekleidete Kundin mit rotem Regenschirm, ein gelbes Lieferauto und ein Schüler oder eine Schülerin mit Lesebuch zu sehen.
Urs Rauber, der hier oft den Zug besteigt, mag dieses Bild: «Die stilisierte Wandmalerei erinnert mich an frühe Bilder von Hans Erni. Sie strahlen einen heiter-fortschrittlichen Zukunftsglauben aus, was dem Aufbruch der 1920er Jahre entspricht.» Jan Leiser sagt: «Man muss die Bilder als Zeugnisse ihrer Zeit sehen, damals herrschte ein anderes Denken als heute.» In der Tat braucht man eine gehörige Portion Phantasie, um nicht zu sagen: Böswilligkeit, um in den beiden expressionistischen Wandbildern Diskriminierung von Menschen oder Volksgruppen zu entdecken. Sind die Menschen aus Afrika, Asien und dem Nahen Osten in unwürdiger oder gar unterwürfiger Stellung dargestellt? Im Gegenteil, sie sind – genau wie der Schweizer Verkäufer und seine Kundinnen – in stolzer, aufrechter Stellung gezeichnet, dem Betrachter und der Betrachterin mit offenem Blick zugewandt.
Zeit für einen Augenschein vor Ort, den der Präsident des Quartiervereins Urs Rauber zusammen mit dem Wiediker Künstler Jan Leiser vornimmt. Was sehen sie da? Auf dem Bild über dem Kiosk (nordöstliche Seite) prüfen elegant gekleidete Kundinnen den von einem Verkäufer angebotenen feinen Stoff. Weiter zeigt das Bild ein voll bepacktes Ehepaar nach dem Einkauf sowie zwei mit einem Ballon und einer Eisenbahn spielende Kinder. Die Botschaft: Das Warenhaus Jelmoli verkauft edle Stoffe, Kleider, Hüte und Spielwaren. Auf der gegenüberliegenden (südwestlichen) Wand über dem Café Spettacolo werden die Hersteller dieser «Kolonialwaren» gezeigt: ein Schwarzafrikaner mit einem Teller voll exotischer Früchte, ein Araber mit einem kunstvollen Teppich und eine chinesische Person mit einem Teetablett. Davon etwas abgesetzt sind eine weissgekleidete Kundin mit rotem Regenschirm, ein gelbes Lieferauto und ein Schüler oder eine Schülerin mit Lesebuch zu sehen.
Urs Rauber, der hier oft den Zug besteigt, mag dieses Bild: «Die stilisierte Wandmalerei erinnert mich an frühe Bilder von Hans Erni. Sie strahlen einen heiter-fortschrittlichen Zukunftsglauben aus, was dem Aufbruch der 1920er Jahre entspricht.» Jan Leiser sagt: «Man muss die Bilder als Zeugnisse ihrer Zeit sehen, damals herrschte ein anderes Denken als heute.» In der Tat braucht man eine gehörige Portion Phantasie, um nicht zu sagen: Böswilligkeit, um in den beiden expressionistischen Wandbildern Diskriminierung von Menschen oder Volksgruppen zu entdecken. Sind die Menschen aus Afrika, Asien und dem Nahen Osten in unwürdiger oder gar unterwürfiger Stellung dargestellt? Im Gegenteil, sie sind – genau wie der Schweizer Verkäufer und seine Kundinnen – in stolzer, aufrechter Stellung gezeichnet, dem Betrachter und der Betrachterin mit offenem Blick zugewandt.
Halt, stopp! Rufen die Rassismusexperten der RiöR: «Mit dem Wissen um die zentrale Bedeutung der Baumwolle im
transatlantischen Sklavenhandel und der Verstrickung der Zürcher Baumwollindustrie lässt sich die Wandmalerei nicht mehr als reine Werbegrafik interpretieren.» Deshalb brauche es
hier eine Gedenktafel oder andere Formen «erläuternder Erklärungen». Da der Bahnhof nicht der Stadt Zürich gehört, empfehlen sie, «dass die SBB für eine adäquate
Kontextualisierung der Wandmalereien im Bahnhof Wiedikon zu sorgen» habe. Die SBB, Eigentümerin der Wandbilder, ist bereits eingeknickt und hat ein eigenes «Historikerbüro»
beauftragt, die Bilder zu untersuchen. Wunschgemäss schreibt ein von ihr eingesetzter Historiker: «Abgebildet werden Stereotypisierungen, Menschen sind auf ihre Herkunft
reduziert.» Solch eurozentrische Darstellungen, findet nun in vorauseilendem Gehorsam die SBB, könnten verletzend sein, etwa für Menschen mit schwarzer Hautfarbe. Deshalb reiche
ein Schild zur Kontextualisierung nicht, sondern es brauche noch eine Dokumentation sowie Führungen vor Ort.
Der bilderstürmerische Eifer dreht immer neue Volten – glücklicherweise nur in städtischen und Bahnbüros, nicht im Quartier und auch nicht in der Zürcher Bevölkerung. Als erste meldete sich die Zürcher Kunsthistorikerin und Publizistin Caroline Kesser zu Wort. Sie sei besorgt über die «immer verbisseneren Versuche» von offizieller Seite, die Gesellschaft moralisch aufzurüsten: «Haben die beigezogenen Experten nichts Besseres zu tun, als in historischen Bildern und Schriften nach bösen Ideologien und verwerflichen Inhalten zu forschen und Methoden zu deren Tilgung zu ersinnen? Sind wir selbst nicht in der Lage, rassistische Ingredienzien zu erkennen und historisch einzuordnen?»
Der bilderstürmerische Eifer dreht immer neue Volten – glücklicherweise nur in städtischen und Bahnbüros, nicht im Quartier und auch nicht in der Zürcher Bevölkerung. Als erste meldete sich die Zürcher Kunsthistorikerin und Publizistin Caroline Kesser zu Wort. Sie sei besorgt über die «immer verbisseneren Versuche» von offizieller Seite, die Gesellschaft moralisch aufzurüsten: «Haben die beigezogenen Experten nichts Besseres zu tun, als in historischen Bildern und Schriften nach bösen Ideologien und verwerflichen Inhalten zu forschen und Methoden zu deren Tilgung zu ersinnen? Sind wir selbst nicht in der Lage, rassistische Ingredienzien zu erkennen und historisch einzuordnen?»
Die Weltwoche stellt die Frage: «Hat SP-Politikerin Corine Mauch sonst keine Probleme?» Verschiedene Leserinnen und Leser werden noch
deutlicher: «Wer da Rassismus sieht, hat mit sich selbst ein Problem.» Und: «Haben die städtischen Beamten eigentlich nichts zu tun, als solchen Mist zu veranstalten?» Auch im
Tagblatt der Stadt Zürich kriegen die Rassismus-Experten ihr Fett ab. Ein Leser spricht von einem «ideologischen Affentheater», mit dem
sich Zürich schweizweit lächerlich mache. In der NZZ findet Redaktor Zeno Geisseler, die Kritiker des globalen Textilhandels sollten sich
statt in «bilderstürmerischen Eifer» über die Bahnhofwände in Wiedikon aufzuregen besser vor den eigenen Kleiderschrank stellen: «Was dort hineinkommt und was nicht, beeinflusst
die Arbeitsbedingungen von heutigen Textilarbeitern in fremden Ländern ganz direkt. Alles andere ist nur Heuchelei.»
Der neuste Bildersturm ist wohl nur einer im Wasserglas. Auch die von der Stadt anvisierte «Einbettung» aller historischen Sündenfälle in eine «gesamtstädtisch koordinierte Erinnerungskultur» stösst weitherum auf Spott und Ablehnung. Volkserziehung im grossen Stil ist im letzten Jahrhundert glücklicherweise mehrmals gescheitert – in braunen wie in roten Diktaturen. Eine freie Stadt wie Zürich braucht solche Versuche jedenfalls nicht.
Vergessen geht dabei allerdings, dass es in Wiedikon reale Probleme gibt, bei denen heutige Menschen sich tatsächlich verletzt fühlen: Grabbesucher etwa und Angehörige von Verstorbenen auf dem Friedhof Sihlfeld. Über 300 Personen haben sich vor einem Jahr in einer Petition dafür ausgesprochen, den Friedhof nachts zu schliessen, um die Störung der Totenruhe und Zweckentfremdung des Friedhofs durch Littering, Partys, Alkohol- und Drogenexzesse, Prostitution, Picknick usw. einzudämmen. Viele weitere Betroffene wandten sich direkt an den Quartierverein und äusserten ihren Unmut, ihre Wut, Trauer und Enttäuschung in Leserbriefen. Auch sie fühlen sich verletzt. Leider zeigt der Stadtrat für ihre Forderung bis heute kein Musikgehör. Und von der städtischen Bild- und Sprachpolizei hört man diesbezüglich nur ohrenbetäubendes Schweigen.
Der neuste Bildersturm ist wohl nur einer im Wasserglas. Auch die von der Stadt anvisierte «Einbettung» aller historischen Sündenfälle in eine «gesamtstädtisch koordinierte Erinnerungskultur» stösst weitherum auf Spott und Ablehnung. Volkserziehung im grossen Stil ist im letzten Jahrhundert glücklicherweise mehrmals gescheitert – in braunen wie in roten Diktaturen. Eine freie Stadt wie Zürich braucht solche Versuche jedenfalls nicht.
Vergessen geht dabei allerdings, dass es in Wiedikon reale Probleme gibt, bei denen heutige Menschen sich tatsächlich verletzt fühlen: Grabbesucher etwa und Angehörige von Verstorbenen auf dem Friedhof Sihlfeld. Über 300 Personen haben sich vor einem Jahr in einer Petition dafür ausgesprochen, den Friedhof nachts zu schliessen, um die Störung der Totenruhe und Zweckentfremdung des Friedhofs durch Littering, Partys, Alkohol- und Drogenexzesse, Prostitution, Picknick usw. einzudämmen. Viele weitere Betroffene wandten sich direkt an den Quartierverein und äusserten ihren Unmut, ihre Wut, Trauer und Enttäuschung in Leserbriefen. Auch sie fühlen sich verletzt. Leider zeigt der Stadtrat für ihre Forderung bis heute kein Musikgehör. Und von der städtischen Bild- und Sprachpolizei hört man diesbezüglich nur ohrenbetäubendes Schweigen.