Quartierverein Wiedikon

Ein Nylonfaden in Wiedikon, der verbindet

Wer weiss schon, was ein Eruv ist? Die jüdische Gemeinschaft in Zürich kennt den Begriff. Ein «Eruv» (hebräisch für Mischung) bedeutet die Vermischung von privatem und öffentlichem Raum. Da im orthodox-jüdischen Leben die Ausübung vieler Tätigkeiten ausserhalb der Wohnung am Sabbat nicht erlaubt ist, wird ein Teil des öffentlichen Raums zum erweiterten – symbolischen – Zuhause erklärt. So dürfen orthodoxe Jüdinnen und Juden auch ausser Haus einen Kinderwagen oder Rollstuhl schieben, Schlüssel tragen oder andere Gegenstände bewegen. Solche Eruv gibt es zum Beispiel in London, Wien, Amsterdam oder New York.
Seit den 1990er Jahren spannt sich ein dünner Eruv-Faden von der Synagoge über die Freigutstrasse
Seit den 1990er Jahren spannt sich ein dünner Eruv-Faden von der Synagoge über die Freigutstrasse
Auf der Spitze des Pfostens ist der Grenzfaden gut erkennbar
Auf der Spitze des Pfostens ist der Grenzfaden gut erkennbar
«Der Eruv ist ein typischer talmudischer Kniff», sagt der neugewählte Kreis 3-Gemeinderat Jehuda Spielman, mit etwas Kreativität würde ermöglicht, überlieferte Regeln einzuhalten und gleichzeitig ein modernes Leben zu führen. Das soll nun in den drei Quartieren Wiedikon, Enge und Wollishofen, wo viele Orthodoxe leben, realisiert werden. Mit dünnen Drähten oder Nylonfäden wird ein erweitertes Zuhause abgesteckt. Von blossem Auge sind die dünnen Fäden kaum erkennbar. Noch ist das Projekt nicht realisiert. Denn alles, was in Zürich im öffentlichen Raum verändert wird, bedarf einer Bewilligung – konkret: einer Baubewilligung.
Kreis 3-Gemeinderat Jehuda Spielman: «Der Eruv ist ein typischer talmudischer Kniff» Kreis 3-Gemeinderat Jehuda Spielman: «Der Eruv ist ein typischer talmudischer Kniff»
In Zürich stecken der Entrepreneur und Startup-Investor Cédric Bollag und seine Frau Naomi hinter dem «Projekt Eruv». Wie kamen Sie auf die Idee? Es gebe eine persönliche Betroffenheit sowie einen übergeordneten Grund, erzählt der Initiant dem Quartierverein. Das Ehepaar Bollag hat drei Kinder – und irgendwann sei es komisch gewesen, dass der Ehemann am Sabbat mit den beiden älteren, die zu Fuss gehen, draussen spazieren gehen konnte, während die Frau mit dem Jüngsten zu Hause bleiben wollte/durfte, da sie am Sabbat keinen Kinderwagen schieben darf. Sie hätten die Idee eines Eruv in Zürich der jüdischen Gemeinschaft unterbreitet, verbunden mit dem Angebot sich dafür zu engagieren. «Das hat eingeschlagen,» erzählt Cédric Bollag, «innert kürzester Zeit haben wir gegen 200 E-Mail-Adressen erhalten, die uns baten, über den Fortgang des Projekts zu informieren.»

In Zürich gibt es bereits einen Eruv rund um die Synagoge in der Freigutstrasse, die anfangs der 1990er Jahre vom damaligen Polizeichef bewilligt worden war. Was damals einfach war, ist heute komplizierter. So reichte denn die Gruppe um Cédric Bollag schon vor zwei Jahren das Anliegen zur Vorprüfung ein. Behördenintern habe es gemäss dem damals zuständigen Stadtrat Richard Wolff keine technischen Bedenken gegeben. Doch für die konkrete Baubewilligung müssen gemäss einem Artikel in der NZZ noch «gut hundert bauliche Massnahmen» geprüft werden. Da könne es durchaus noch Korrekturen geben – «etwa wenn der Denkmalschutz tangiert ist».
Cédric Bollag ist Initiator des geplanten Zürcher Eruv Cédric Bollag ist Initiator des geplanten Zürcher Eruv
Cédric Bollag ist stolz darauf, dass alle jüdische Gemeinden der Stadt das Projekt unterstützen. Er selbst ist Angehöriger der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ). Nach derzeitigem Stand umfasse die symbolische Grenze rund 18 Kilometer, sei aber von blossem Auge kaum sichtbar. Nur etwa 500 Meter müssten neu markiert werden. Die meisten Abschnitte verlaufen bereits heute entlang von Hausfassaden, Zäunen, Flussläufen, natürlichen Hindernissen. «Dort, wo ich am Gehen gehindert werde, wo ich nicht mehr weiterkomme, ist eine natürliche Grenze und braucht es keine weitere Massnahme für den Eruv», sagt dazu Jehuda Spielman. Und Cédric Bollag ergänzt: «Wenn das Projekt einmal steht, kann man das Eruv-Gebiet vor dem Sabbat online herunterladen – ähnlich wie eine Skipisten-Karte.»

Und wann soll das Projekt realisiert sein? Gemäss Bollag steht die Gruppe kurz vor dem Einreichen des Baugesuches. «Wir hoffen, dass wir danach die Baubewilligung in ein paar Wochen erhalten.» Die Realisierung selbst dauert vielleicht zwei bis drei Monate. Sowohl Bollag wie Spielman erhoffen sich, dass der Eruv in Zürich noch in diesem Jahr Wirklichkeit wird.

Lesen Sie hier den Artikel von Giorgio Scherrer in der NZZ vom 29. April.